Ob SAFe, Scrum oder OKR; viele Unternehmen durchlaufen eine agile Transformation, um die Innovations- und Time-to-Market-Anforderungen der VUCA-Welt zu erfüllen. Allerdings macht sich schnell Frustration breit, wenn die erwünschten Ergebnisse nicht innerhalb kurzer Zeit realisiert werden können. Hierfür gibt es viele Gründe, z. B. mangelnde Unterstützung durch das Management oder die Vernachlässigung des notwenigen kulturellen Wandels. Das häufigste Problem in diesem Zusammenhang ist das “Rosinenpicken”.

Was genau bedeutet Rosinenpicken und wie äußert es sich?

Agiles Rosinenpicken bedeutet nur einzelne Komponenten des agilen Frameworks auszuwählen, die zur existierenden Organisationsstruktur bzw. den persönlichen Einzelinteressen passen, oder die umgesetzt werden können ohne jemandem dabei auf die Füße zu treten. 

Zum Beispiel verstehen Mitglieder eines agilen Teams ihre agile Rolle als ein: „Ich kann machen, was ich will. Ich bin Expert:in“. Auf der anderen Seite gehen die Stakeholder davon aus, dass sie jederzeit alles ändern können, wie in einer Linienorganisation mit klarem autoritärem Durchgriff. In diesem Fall wird Agilität mit „grenzenloser Freiheit“ gleichgesetzt und nicht mit einem strukturierten, teilweise sehr eng definierten Prozess, der genutzt wird, um Komplexität zu reduzieren und innovativ zu arbeiten. Man versucht also, nur die „schmerzfreien“ Aspekte von Agilität herauszupicken und zu implementieren und die anderen außen vor zu lassen.  

Agilität ist kein all-you-can-eat-Buffet, bei dem man sich nur nimmt, was man mag und den Rest liegen lässt. Erstens müssen alle Frameworks (wie z.B. SAFe) an die rechtlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, wie z.B. an die Anforderungen der Branche, das länderspezifische Arbeitsrecht oder die Rechte des Betriebsrats. Problematisch dabei ist, dass es dazu keine Blaupause gibt, man benötigt erfahrene Experten. Und: Meist wurden diese notwendigen Änderungen nicht eingeplant und auch nicht eingepreist.  

Zweitens tut Veränderung weh und die Belegschaft leistet Widerstand. Die Mitarbeiter:innen haben zum Beispiel Angst davor Einfluss zu verlieren, das neue Konzept nicht zu verstehen oder nicht mehr die gleiche Stellung im Unternehmen einzunehmen. Alle diese Faktoren basieren auf grundlegenden psychologischen Bedürfnissen: Sicherheit, Vertrauen, Kontrolle, Selbstwertgefühl. Unter diesen Voraussetzungen kann ein agiles Framework nicht seine volle Wirkung entfalten. 

”Agile light” führt nicht zum vollen Erfolg

Es ist nicht erfolgversprechend, nur Rituale und Rollen einzuführen, die der Organisation und dem Management vertraut sind, oder sie einzuführen, ohne die notwendigen Befugnisse zu vergeben. Ein wichtiger Fakt, den die oberste Führungsebene bei ihren Entscheidungen über die Einführung agiler Methoden im Auge behalten muss. Ein agiles Framework kann nur dann sein volles Potenzial entfalten, wenn alle wichtigen Hebel mit voller Autorität eingesetzt und unterstützt werden. 

Was ist festgelegt und was kann und sollte angepasst werden?

Es gibt drei Hebel, die Sie im Blick haben sollten, um agiler Rosinenpickerei entgegenzuwirken und Ihre agile Transformation zu unterstützen: 

  1. Respektieren Sie die agilen Prinzipien und Werte: Eine wichtige Frage, die man sich stellen kann, ist: Passt diese Entscheidung zu den agilen Grundsätzen und Werten? Damit haben Sie einen guten Ausgangspunkt für eine agile Denkweise.
  2. Sicherstellen der Autorität: Stellen Sie sicher, dass die Personen innerhalb des Systems über das Wissen, die Unterstützung und die Autorität verfügen, die sie benötigen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Es sollte Experten auf den jeweiligen Gebieten geben, die Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen.
  3. Kommunikation unterstützen und Führung einladen: Eine transparente Kommunikation, einschließlich klarer Führungsvorgaben, ist wichtig und viel leichter gesagt als getan. Eine niedrigschwellige Kommunikation in Kombination mit einem einladenden Führungsansatz wird den kulturellen Teil der agilen Transformation sicherstellen.

Wenn sich Ihr Unternehmen noch in der Anfangsphase der digitalen Transformation befindet oder Sie in einem hybriden Umfeld arbeiten, in dem beispielsweise ein (kleinerer) Teil Ihres Unternehmens bereits agil ist und andere Bereiche noch nach dem Wasserfall- oder System-Engineering-Prinzip arbeiten, ist es wichtig, die Schnittstellen zwischen diesen Arbeitsweisen zu definieren und zu pflegen. Dazu gehört, dass man sich gegenseitig das Arbeitsmodell erklärt und die Arbeit der anderen respektiert. Für diese Aufgabe ist es hilfreich, eine Rolle in Form eines ”Botschafters”, ”Mediators” oder ”Customer Success Lead” zu etablieren, der zwischen den verschiedenen Arbeitsweisen und den jeweiligen Beteiligten vermittelt. 

Mut zur Lücke

Die agile Transformation erfordert einen erheblichen Einsatz an Ressourcen und Belastbarkeit. Es gibt viele Unbekannte, auch wenn einige Rahmenwerke, wie SAFe, die aufgrund ihres technischen Niveaus den Eindruck von Sicherheit vermitteln. SAFe ist jedoch immer noch ”nur” ein Rahmenwerk, das angepasst werden muss, da es ein US-amerikanisches Rahmenwerk ist, das die EU-Arbeitsrichtlinien nicht berücksichtigt. Um agil zu werden, braucht man Mut, Visionen und Vertrauen in die Mitarbeitenden und das Management, sowie Verständnis für die Konsequenzen der getroffenen Entscheidungen. Es gibt viele Fallstricke, die es bei der Einführung eines agilen Rahmens zu vermeiden gilt, und agile Rosinenpickerei ist nur einer davon. Behalten Sie das im Hinterkopf, vor allem, wenn Sie wichtige Entscheidungen wie einen ”Agile Readiness Check” treffen.